Rezension: Keine halben Sachen
OKG freut sich über den neuen Schwung, der in die Debatte um gewerkschaftliche Erneuerung durch das Buch von Jane McAlevey „Keine Halben Sachen“ gekommen ist.
Anbei haben wir die bereits zitierte Kritik von Labor Notes ins Deutsche gesetzt, da wir deren Stoßrichtung teilen und der Meinung sind, dass die deutsche Gewerkschaftslandschaft auch auf diese Kritik hin überprüft werden sollte.
Denn Organisieren - also Organizing - ist wichtig, um Arbeiter*innenmacht aufzubauen, aber nur ein erster Schritt, nach dem viele weitere kommen müssen. Über die müssen wir reden, wenn wir aus der gewerkschaftlichen Defensive kommen wollen. Dazu gehört die Frage, wie wir nachhaltig dazu beitragen können, dass in den Betrieben eine kämpferische Basis bleibt, wenn Organizingprojekte abgeschlossen sind. Und was heißt es demokratische Gewerkschaften zu erkämpfen, die mit der Sozialpartnerschaft brechen? Wenn Organizing gut läuft, dann entstehen betriebliche Kerne, die laut sagen, was sie wollen und die sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. Ohne sie werden wir nicht gewinnen. Aber gewinnen werden wir auch nicht, wenn wir die größere Frage nicht aufwerfen, wie die klassenpolitische Ausrichtung unserer Gewerkschaften zu verändern ist und wie wir für mehr demokratische Strukturen sorgen können. Sicher ist nur: Aus Organizing allein ergibt sich das nicht.
Wir führen diese Debatte gerne auf der Vernetzungskonferenz am 26.-27.10. in Kassel fort.
https://labornotes.org/blogs/2017/10/review-no-shortcuts-organizing-power-new-gilded-ageÜbersetzung der Rezensionhttps://labornotes.org/blogs/2017/10/review-no-shortcuts-organizing-power-new-gilded-age
Das Buch von Jane McAleveys ‚No Shortcuts‘ (auf Deutsch „Keine Halben Sachen“, im VSA Verlag erschienen) ist ein aufregendes Buch. Es erzählt die Geschichten wichtiger Kämpfe und geht die großen Fragen der ArbeiterInnenbewegung an. McAlevey ist eine ehemalige Mitarbeiterin, Organizerin und „national leader“ der Gewerkschaft Service Employees (SEIU) – sie war auf der Verliererseite eines Machtkampfs, dann eine Akademikerin und jetzt eine Beraterin.
Leserinnen und Leser werden erkennen, dass die von McAlevey propagierten Konzepte viele der Kämpfe widerspiegeln, über die in Labour Notes über die Jahre berichtet wurde. Sie erklärt sie gut und bietet historischen Kontext. Wenn sie bei einigen Themen einige wichtige Feinheiten oder Komplikationen übersieht, dann tut das der Sache keinen Abbruch.
McAlevey stützt ihre Argumentation auf fünf Fälle. Sie vergleicht die Ansätze von zwei Organisierungsbemühungen in Pflegeheimen und nennt diese "Klassenkuscheln vs. Klassenkampf". Sie geht auf den Streik der LehrerInnen-Gewerkschaft in Chicago von 2012, auf die erfolgreiche Organisation bei Smithfield Foods in einem sog. ‚Recht-auf-Arbeit‘-Staat, und auf die Entwicklung eines Community-Organizing-Projekts (‚Make the Road New York‘) ein.
DREI MODELLE
McAlevey geht davon aus, dass es drei Aktionsmodelle für Veränderung gibt. Am wenigsten hält sie von dem, das sie das „Advocacy-Modell“ (Stellvertreter-Modell) nennt: hier besteht die zentrale Aktionsform darin Lobbyarbeit zu betreiben oder mit Menschen an der Macht zusammenzuarbeiten. Ein Beispiel sind Kampagnen, in denen die Beschäftigten, denen die Kampagnen helfen sollen, nicht einbezogen und befähigt werden. "Stellvertretertum bezieht gewöhnliche Menschen nicht wirklich mit ein", sagt sie. "Anwälte, Meinungsforscher, Wissenschaftler und Kommunikationsfirmen werden angeheuert um den Kampf zu führen."
McAlevey betont anschließend den Unterschied dazwischen die Massen zu mobilisieren oder zu organisieren. Sie gibt keine präzisen Definitionen, aber im Wesentlichen konzentriert sich das Organisierungsmodell darauf, dass die Beschäftigten die Hauptakteure des Wandels sind: Sie treffen die Entscheidungen, lernen aus ihren Erfahrungen und bauen dies dann auf neuen Ebene immer weiter aus. Sie nennt dies auch das CIO-Modell. Das Mobilisierungsmodell sei ein wichtiges Instrument, aber es hänge zu oft von kompetenten Funktionären ab, die die Probleme lösen, Entscheidungen treffen und die Führung übernehmen, während die „Masse“ lediglich Truppen seien, die Anweisungen befolgen.
Aktivitäten, die von Gewerkschaftsmitgliedern selbst organisiert werden, erzeugen nicht nur Massendruck, sondern helfen den Mitgliedern auch, selbstbewusste AnführerInnen zu werden, die weiterarbeiten und andere organisieren können. Deshalb setzt sich McAlevey für den Massenstreik ein. Neben der Tatsache, dass durch Streiks die Beschäftigten ihre Macht am Arbeitsplatz nutzen - dem einzigen Ort an dem sie über echte soziale Macht verfügen - fördern Streiks auch ihr Bewusstsein für diese Macht. Denn hier sind sie „direkt mit der Fähigkeiten verbunden Tarifverträge mit lebensverändernden Standards auszuhandeln, wie etwa die Kontrolle über Arbeitszeiten und -pläne, klare Abläufe bei Fragen der Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz, Personalbemessung und Reduzierung der Arbeitsbelastung, sowie bezahlte Krankheitstage und Urlaubszeiten."
Um einen Streik zu gewinnen, müssen die Beschäftigten für sich selbst organisiert und aktiv sein: angemessen mit verkrusteten Strukturen umgehen, Strategien der Arbeitgeber entschlüsseln und stoppen, bei langen Streiks die Moral und körperliche Unterstützung aufrechterhalten. Vermutlich trifft das gleiche Argument - vielleicht sogar noch mehr - auf interne Kampagnen zu, z. B. den Arbeitsprozess „rückwärts laufen lassen“ und effektive Streikvorbereitungen, die das Management zum Rückzug zwingen.
TRANSPARENTE VERHANDLUNG
McAlevey besteht vollkommen richtig darauf, dass die Gewerkschaften die Idee in Frage stellen müssen, dass „die Gewerkschaft“ eine „dritte Partei“ in der Beziehung zwischen Beschäftigten und ihren Vorgesetzten sind. Sie zeigt auf, wie sich die Gewerkschaften selbst für diese Position entschieden haben, am offensichtlichsten bei Tarifverhandlungen. Funktionäre halten die Mitglieder häufig im Dunkeln, während die meisten oder alle wirklichen Verhandlungsführer keine Verbindung zum Arbeitsplatz haben. Die Antwort darauf lautet "Transparenz":
"Drei Fragen können entscheiden, ob die Gewerkschaft eine dritte Partei bei der Tarifverhandlung ist oder nicht: Bezieht der Prozess jeden Beschäftigten mit ein? Sind die Verhandlungen vollkommen transparent? Kann jeder teilnehmen?"
McAlevey hat ein kritisches Problem festgestellt, aber es reicht bei weitem nicht aus, Verhandlungsrunden zu eröffnen.
Reale Verhandlungen erfordern die Sondierung von Alternativen und die Fähigkeit zum Brainstorming, die nicht möglich sind, wenn alle die Möglichkeit haben, zuzuhören und Äußerungen, die möglicherweise aus dem Zusammenhang geraten, zu veröffentlichen. Noch wichtiger ist, dass Verhandlungen über Tage hinweg ein kontinuierlicher Prozess sind. Beschäftigte, die nach der Arbeit oder in den Pausen vorbeikommen, können nicht wirklich beurteilen, was passiert, geschweige denn an den Verhandlungen beteiligt sein. Eine solche flache Beteiligung ist an sich kein demokratischer Schritt.
Es ist in der Tat eine gute Taktik zum Druckaufbauen, die Verhandlungsrunden mit Hunderten von einfachen Mitgliedern zu füllen. Dies kann Gewerkschaftsmitglieder - oder Gemeindemitglieder, wenn sie auch dazu eingeladen werden - über die Art des Kampfes mit dem Arbeitgeber aufklären. Es wird aber noch viel mehr benötigt. Verhandlungen können in der Hand der Mitglieder sein, wenn die Tarifkommission erweitert wird und sich aus Beschäftigten zusammensetzt, die aus allen Bereichen gewählt werden. Sie müssen freigestellt werden und eine fachliche Ausbildung erhalten, um die tatsächlichen Verhandlungspartner zu sein. Sie müssen regelmäßige Berichte über den Fortschritt für die Mitglieder erstellen und vor der Abstimmung Mehrheits- und Minderheitenperspektiven herausgearbeitet vorlegen.
POWER MAPPING
Ein wichtiger Teil des Buches ist die Betonung von `Power Mapping` (to map: Englisch für „etwas aufzeichnen“, daher Übersetzungsvorschlag: Betriebslandkarte). Wenn du Veränderungen erreichen möchtest, musst du verstehen, wo sich die Macht im System befindet. Du musst auch die Macht verstehen, die in der Hand der Beschäftigten liegt. Macht kommt vom Organisanisiert-sein, auch wenn es informell ist. Denn auch bei einer informellen Organisierung gibt es AnführerInnen. Bei einem schwierigen Thema wenden sich die meisten Beschäftigten an einen erfahrenen Kollegen oder Kollegin. McAlevey betont (wie die meisten erfolgreichen OrganizerInnen) die Bedeutung dieser „‘organischen AnführerInnen‘. Diese sehen sich selbst selten als AnführerInnen und tragen meist keine offiziellen Titel, aber sie sind durch ihren natürlichen Einfluss auf ihre KollegInnen identifizierbar".
McAlevey biegt es sich jedoch etwas zurecht, wenn sie die ‚organischen AnführerInnen‘ denjenigen gegenüberstellt, die sie die "Aktivisten" nennt. Diese definiert sie als diejenigen, die sich oft am meisten für die Sache engagieren, denen aber wenige folgen. Tatsächlich sind aber beide notwendig. ‚Organische AnführerInnen‘ sind AnführerInnen in einer Status-quo-Situation. Sie können mit dieser Situation zufrieden sein und Vorteile genießen, wie McAlevey bekräftigt. Es braucht oft die Aktivisten, um die Möglichkeiten zu schaffen, damit sich die ‚organischen AnführerInnen‘ bewegen. ‚Organische Anführerschaft‘ am Arbeitsplatz ist oft ein Team von Menschen, die wichtige, aber unterschiedliche Rollen spielen.
WARUM NUTZEN NICHT MEHR GEWERKSCHAFTEN DAS ORGANIZING-MODELL?
McAlevey fragt: "Wenn die Organizing-Methode so effektiv ist, warum wurde es dann so wenig angewendet?"
Sie nennt viele Gründe, darunter den ‚Friedensvertrag‘ zwischen Regierung und Management während des Zweiten Weltkriegs, der die Macht in der Produktion aufgab; den Taft-Hartley Act; das Versagen der amerikanischen Linken, wie die "selbst zugefügten Wunden des Stalinismus"; und den McCarthyismus, der Linke aus den Gewerkschaften vertrieb. Sie geht aber kaum auf diese Gründe ein. Der größte Teil ihrer Kritik richtet sich an Saul Alinsky, seine Ideologie des ‚Community Organizing‘, und die Annahme dieser Strategie durch angeblich zukunftsorientierte "organisierende Gewerkschaften" wie SEIU.
McAlevey argumentiert, dass Alinsky durch folgendes das Organizingmodel des CIO auf das Mobilisierungsmodell umgestellt hat:
- Verzicht auf das Ziel, die Machtstruktur selbst zu verändern, zugunsten von Kampagnengewinnen innerhalb dieser Machtstruktur.
- Die Losung ausrufen: Die Armen gegen alle anderen. Dadurch werden die ungelernten ArbeiterInnen von natürlichen, mächtigen Verbündeten - den qualifizierten und angelernten ArbeiterInnen - getrennt.
- Die Besessenheit von John L. Lewis bezüglich der Top-Down-Kontrolle von Organisatoren zu übernehmen.
Es wird Streitigkeiten darüber geben, ob dies wirklich der wahre "Alinskyismus" ist, aber es ist eine gute Beschreibung eines Großteils des heutigen NGO Organizings und einiger Versuche von Gewerkschaften das Organzing Modell anzuwenden.
Die Erklärung von McAlevey sollte von denen, die einen Systemwechsel anstreben, sorgfältig geprüft werden.
Ihr Kapitel über ‚Make the Road New York‘, ein großes Zentrum der Arbeiterbewegung unter den Einwanderern von New York City, ist aufschlussreich. McAlevey beschreibt die Entwicklung und die Erfolge, sagt aber, dass die OrganizerInnen nicht über eine "hervorragende Mobilisierung" hinausgegangen sind. Der Erfolg hing davon ab, dass das Zentrum in einem starken Gewerkschaftsstaat mit gewerkschaftlicher Unterstützung existiert. "Trotz des unglaublichen Wertes von MRNY", schreibt sie, "ist es ein aktivistischer Ansatz, der die Art von Arbeitgeber-Angriffen, mit der Arbeiter in wirklich harten Kampagnen konfrontiert sind, nicht gewachsen ist."
Das Herzstück der Vorschläge von McAlevey ist, dass Gewerkschaftsmitglieder, die sowohl an ihren Arbeitsplätzen als auch in ihren Gewerkschaften echte Macht ausüben, der Schlüssel zum Wiederaufbau und zur Umwandlung einer Arbeiter*innenbewegung sind, die mehr für die Arbeitnehmer*innen rausholen können. Gewerkschaflter erproben viele dieser Ideen seit Jahren, mit unterschiedlichem Erfolg.
WO SIND DIE REFORMER?
Aber es gibt eine seltsame Lücke im Buch: Es gibt keine Diskussion darüber, wie man den Kampf innerhalb der Gewerkschaften weiterführen kann, um sie zu ändern und diese Politik zu übernehmen. McAlevey vermeidet diese Diskussion. Es ist, als ob sie hofft, dass die derzeitigen AnführerInnen das Licht sehen und ihre Mitglieder von oben "ermächtigen" werden.
In Wirklichkeit müssen sie oft ersetzt werden, indem sich die Opposition organisiert und ihnen ihre Ämter streitig macht. Diese Art des Organisierens kann genauso schwierig sein wie der Kampf gegen den Chef, und genauso notwendig, um die Gewerkschaft zu einen Ort zu machen, von dem aus man den Chef bekämpfen kann.
Merkwürdigerweise erwähnt McAlevey ‚Labor Notes‘ nicht, die sich seit Jahrzehnten für diese Ideen einsetzen. Labor Notes hat Beschäftigten nicht nur die Werkzeuge für das "Organizingmodell" zur Verfügung gestellt, sondern auch ein Netzwerk für Aktivisten geschaffen, die den von McAlevey beschriebenen Weg gehen.
Wenn Leser versuchen, Gewerkschaften nach dem Vorbild von McAlevey umzugestalten, sollten sie in ‚How to Jump-Start Your Union: Lessons from the Chicago Teachers‘ lesen, in welchem das Vorgehen der LehrerInnen Schritt für Schritt beschrieben wird. Und ‚Secrets of a Successful Organizer‘ (ins Deutsche übersetzt: http://www.schmetterling-verlag.de/page-5_isbn-3-89657-155-9.htm„Geheimnisse einer erfolgreichen Organizerin“, Schmetterlingsverlag). Und dann gibt es noch die unschätzbaren Workshops, Netzwerke und das Gefühl der Macht, das mit der Labor Notes Konferenz einhergeht.
Sicherlich müssen die GewerkschaftsführerInnen erkennen, dass die Lobbyarbeit und die Mobilisierungsmodelle nur begrenzte Ergebnisse bringen. Denkt an die anhaltenden Misserfolge der United Auto Workers die Automobilwerke im Süden zu organisieren. Warum also verfolgen nicht immer mehr Gewerkschaften Strategien, bei denen die Mitglieder das Sagen haben?
Die Antwort ist, dass die Ausbildung von Mitgliedern zu Führungskräften und die Entfaltung der Demokratie auch die Mitglieder befähigt, die Führung in der Gewerkschaft herauszufordern. Das ist ein Grund, warum Gewerkschaften das Mobilisierungsmodell bevorzugen. Hier werden intelligente „Experten“ eingesetzt, die von Funktionären angestellt und daher von ihnen kontrolliert werden - anstatt die Mitglieder darin zu schulen und ihnen zu ermöglichen, sich am Arbeitsplatz zu organisieren.
No Shortcuts ist kein Betriebsanleitungs-Handbuch, wie die Bücher von Labor Notes. Es ist ein unverzichtbares, zum Nachdenken anregendes Buch für das Gesamtbild.
Mike Parker ist Mitautor von Labor Notes' Democracy Is Power, 1999, einem Handbuch über den Besitz und die Beteiligung von Mitgliedern.